Wenn man Yoga für Fortgeschrittene hört denken viele daran, das es in solch einer Übungspraxis darum geht, immer anspruchsvollere Körperhaltungen (Asanas) zu erlernen und diese irgendwann zu meistern. Je herausfordernder und schwieriger die einzelnen Asanas, desto besser. Nur geht es tatsächlich darum ewig im Kopfstand zu stehen oder den Atem anhalten zu können? Wie reagiert man dann, wenn das ganze nicht so gut klappt, wie man sich das vorstellt?

Wenn man in die Yogaphilosophie, ich rede von den alten Grundlagen Texten, schaut, wird einem schnell deutlich, das der Yoga ursprünglich ganz andere Ziele verfolgte.

Zum Beispiel heißt es in Patanjalis Yoga Sutren (dem 2000 Jahre alten Leitfaden des Yoga):

„Yoga ist der Zustand, in dem die Bewegungen des Citta (des meinenden Selbst)
in eine dynamische Stille übergehen.“ Geistes zur Ruhe kommen.“

Mit anderen Worten, Yoga ist der Zustand in dem die Aktivitäten des Geistes zur Ruhe kommen.

Wenn man diese Schriften liest und sich damit befasst, wird einem schnell klar, das es im Yoga tatsächlich nicht darum geht die fortgeschrittensten Asanas zu beherrschen, sondern darum den Geist zu beruhigen, zu festigen und zu klären, um die Früchte daraus zu ernten, die da wären, Gelassenheit, Gleichmut, Zufriedenheit, Glück, Liebe, frei von äußeren Bedingungen und ganz egal, was im Leben gerade so geschieht. Yoga wurde, meines Erachtens von sehr Weisen Menschen, dazu entwickelt, den Geist und den Körper zu schulen und mit der Seele zu vereinen und zu stärken. Werden dann im Yogaunterricht komplexere Asanas geübt, können wir die mentalen Muster in uns erfahren und erspüren und wissen, das uns diese Muster daran hindern wollen unsere Ziele in die Tat umzusetzen. Dieses können wir dann von der Matte mit ins Leben nehmen und sollten solche z.B. Ängste in uns hochkommen, können wir besser damit zurechtkommen.

Begibt man sich auf den Yogaweg, stellt man oft fest, das man sich im Laufe seines Lebens viele Denkmuster angeeignet hat, die einen eher belasten, das Leben erschwert und man viel zu viel von sich selbst Erwartet, was einen unter Druck geraten lässt. Dieser Druck fängt in unserer Leistungsgesellschaft schon in der Kindheit an, es werden uns viel zu viele Regeln vorgesetzt und wenn man diesen Regeln nicht folgt, wird man schnell zum Außenseiter oder schwer erziehbar und das macht uns zum Problem. Im Grunde genommen wird uns gelehrt, das wir so wie wir sind nicht gut genug sind, nicht perfekt und das steht immer im Fokus in unserem weiteren Leben.

Und hier kann Yoga uns eine enorme Hilfe sein, ihm geht es darum uns zu zeigen, das alles an uns und in uns einfach perfekt ist, wir sind vom Moment unserer Geburt die absolute Vollkommenheit. Durch die Praxis von Yoga lernen wir uns von all diesem „Ballast“ zu befreien um wieder von innen heraus zu strahlen. Der Weg des Yoga ist ein Weg, in dem man lernt loszulassen, sich nicht mehr von äußeren Faktoren lenken zu lassen und von innen heraus frei zu werden. Dazu gibt er uns einige Instrumente in die Hand wie z.B. Asanas (Körperhaltungen), Pranayama (Atemübungen), Mudras&Bhandas (Energiearbeit), die Meditationspraxis und die Schulung des Geistes durch die yogischen Schriften, der Philosophie, diese steht über allem. In ihr finden wir alle Konzepte, die hinter den Übungen stehen. Sie vermittelt uns Übungen und Richtlinien, wie wir die Gedanken neu ausrichten können, in dem wir unsere Aufmerksamkeit beispielsweise auf etwas ganz anderes lenken, sie gibt uns Stabilität und beschenkt uns mit Lebensweisheiten. Das bekannteste Werk hierfür ist wohl das Yogasutra des Patanjali, ein Meisterwerk für alle diejenigen, die in ihrem Leben eine neue Richtung einschlagen wollen und zurück zu der sogenannten inneren Mitte wollen.

Ein fortgeschrittener Yogi zu sein bedeutet also nicht nur immer beweglicher und kräftiger zu werden, sondern es bedeutet vor allem zu lernen, wie man mit sich selbst umgeht, mehr Bewusstheit, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit auf die Matte und in sein Leben zu bringen. Deswegen brauchen wir zuerst einfache Übungen, denn wenn wir uns zu früh einer anspruchsvollen, komplexen Übungspraxis widmen, richten wir unsere ganze Aufmerksamkeit darauf aus, den vielen Anforderungen der Haltungen, der Ausrichtung (Alignment) und der Selbstkorrektur. Natürlich schulen wir dadurch unsere Konzentration und Aufmerksamkeit, nur bleibt sie leider im Außen mit der äußeren Form beschäftigt, gehen wir stattdessen einen Schritt zurück oder beginnen mit einer leichteren Praxis, können wir die Haltungen besser meistern und haben so die Möglichkeit, unsere Denk-, Bewegungs-, Atem- und Emotionsmuster während des Übens wahrzunehmen und zu beobachten. Nur so sind wir in der Lage etwas über uns zu lernen, wir können unserem Üben den Freiraum schenken und die Konzepte des Yoga nicht nur in der Praxis anzuwenden sondern in unserem Leben zu leben.

Wenn man sich selbst einen großen Gefallen tun möchte, dann sollte man sich immer als Anfänger sehen. Als Anfänger nimmt man alles wahr, was einem begegnet, man ist neugierig, vorsichtig, achtsam, konzentriert, offen, aktiv und vollkommen unvoreingenommen. Je öfter wir jedoch etwas tun, desto eher glauben wir es zu kennen, wir entwickeln eine Art Routine und unser Körper&Gehirn schaltet auf Automatik Modus und interessiert sich nicht mehr so sehr für das, was wir gerade tun. Genau dann beginnen unsere Gedanken abzuschweifen und sich im Aussen zu vergnügen statt mit dem was man in diesem Moment tatsächlich gerade tut, was genau im Körper gerade los ist, denn egal wie oft wir eine Übung wiederholen, es gibt immer wieder neue Dinge zu entdecken. Wenn wir wissen, das der Körper die Übung nie wirklich gleich wiederholt, da wir jeden Tag in einer anderen Verfassung sind, kann es einen leichter fallen mehr Aufmerksamkeit in jede Übung zu legen und herauszufinden wie sich diese in dem jetzigen Moment tatsächlich anfühlt.

„Yoga ist die Fähigkeit, sich ausschließlich auf einen Gegenstand, eine Frage oder einen
anderen Inhalt auszurichten und in dieser Ausrichtung ohne Ablenkung zu verweilen.“
(T.K.V. Desikachar)

Diese Fähigkeit ist Ausdruck einer fortgeschrittenen Yogapraxis. Jedes Mal, wenn wir unsere Yogamatte betreten, ist es wie das erste Mal da wir vieles neues entdecken werden. Jedes Mal sind wir dazu eingeladen, zu experimentieren und vollkommen neue Erfahrungen zu machen, lernende zu bleiben, ganz gleich welche Übungen oder philosophischen Texte auf uns zukommen.
So wird der Weg zum Ziel, denn Yoga besteht zu 99% aus Praxis und Erfahrung im Hier und Jetzt absolut präsent zu sein.

„Yoga fordert auf, sich selbst zu erforschen und kennenzulernen. Yoga ist eine innere Haltung,
die Achtsamkeit und Bewusstsein erfordert und gleichsam fördert. Regelmäßige Yoga-Übungen
können helfen, der Hektik des Alltags gelassen und standhaft entgegenzutreten.“
(B.K.S. Iyengar)